Samstag, 20. Februar 2016

Reminiszere; mit einem Kommentar zu den Leitgedanken der NAK vom 21. Februar 2016



Den Menschen ausgeliefert (Streit um Jesus)


Heute ist der 2. Sonntag der Passionszeit - Reminiszere. Der Name des Sonntags Reminiszere leitet sich vom Beginn der lateinischen Antiphon ab: "Reminiscere miserationum tuarum, Domine, et misericordiarum tuarum quae e saeculo sunt" (Ps 25, 6: „Gedenke, HERR, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.“).

Im Verlauf der fortlaufenden Bibellese hören wir den Psalm 123:
Sehnsucht nach Gottes Eingreifen
Zu dir, der du im Himmel thronst, richte ich meinen Blick empor. Ja, wie die Augen der Knechte auf den Wink ihres Herrn warten und die Augen der Magd auf ein Handzeichen ihrer Herrin, so richten wir unsere Augen auf den Herrn, unseren Gott, bis er uns Gnade erweist. Sei uns allen gnädig, Herr, sei uns gnädig! Denn wir haben mehr als genug Verachtung erfahren müssen. Aus tiefster Seele haben wir es satt, den Hohn der Stolzen und den Spott der Selbstherrlichen zu ertragen. (NGÜ)

Die Lesung aus dem Evangelium findet sich in Mk 12, 1-12
Das Gleichnis von den bösen Weinbergspächtern
Dann wandte sich Jesus mit einem Gleichnis an sie. Er sagte: »Ein Mann legte einen Weinberg an, machte einen Zaun darum, baute eine Weinpresse und errichtete einen Wachtturm. Dann verpachtete er den Weinberg und verreiste. Zur gegebenen Zeit schickte er einen Boten zu den Pächtern, um seinen Anteil am Ertrag des Weinbergs abholen zu lassen. Die Pächter aber verprügelten den Boten und ließen ihn unverrichteter Dinge abziehen. Der Besitzer schickte einen zweiten, dem schlugen sie den Kopf blutig und behandelten ihn auf die schimpflichste Weise. Da schickte er einen weiteren Boten. Den brachten sie sogar um. Und so machten sie es noch mit vielen anderen, die er schickte: Die einen wurden misshandelt, die anderen umgebracht. Schließlich blieb ihm nur noch sein eigener Sohn, dem seine ganze Liebe galt. Den schickte er zu den Pächtern, weil er sich sagte: ›Vor meinem Sohn werden sie Respekt haben.‹ Aber die Pächter sagten zueinander: ›Das ist der Erbe! Wir bringen ihn um, dann gehört seine Erbschaft, der Weinberg, uns!‹ So töteten sie ihn und warfen die Leiche aus dem Weinberg hinaus. Was wird nun der Besitzer des Weinbergs tun? Er wird selbst kommen, die Pächter töten und den Weinberg anderen anvertrauen. Ihr kennt ja wohl die Stelle in den Heiligen Schriften, wo es heißt: ›Der Stein, den die Bauleute als wertlos weggeworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Der Herr hat dieses Wunder vollbracht, und wir haben es gesehen.‹« Die führenden Priester, die Gesetzeslehrer und die Ratsältesten hätten Jesus gerne festgenommen; denn sie merkten, dass das Gleichnis auf sie gemünzt war. Aber sie hatten Angst vor der Menge. So ließen sie ihn unbehelligt und gingen weg. (GNB)

Demgegenüber ist die Lesung und die Predigtgrundlage für die Gottesdienste der NAK an diesem Sonntag aus „Mt 7, 9-10: „Wer ist unter euch Menschen, der seinem Sohn, wenn er ihn bittet um Brot, einen Stein biete? Oder, wenn er ihn bittet um einen Fisch, eine Schlange biete?“ (LUT)

Begründung: "Am 3. Sonntag im Februar, der die Überschrift "Gott schenkt das Gute" trägt, „geht es ebenfalls um die Fürsorge Gottes, der alleine wahrhaft Gutes und Vollkommenes schenken kann. In unseren Gebeten wollen wir ihn immer wieder um diese Gaben bitten. Wir wollen - so beschenkt - auch ein Segen für unseren Nächsten sein“ (zitiert aus den o. g. Leitgedanken der NAK).

Für den Sonntag Reminiszere ist keine Bachkantate (Johann Sebastian Bach 1685-1750) vorgesehen.

Mein Lied für den heutigen Sonntag lautet: Halt im Gedächtnis Jesus Christus (T: Cyriakus Günther ( vor 1704) 1714; M: Johann Walter 1524)

Kommentar: Oft werden Gleichnisse allegorisch verstanden und interpretiert. Allegorien haben den Sinn, die 2000-jährige Distanz zwischen dem Erzählten und unserer aktuellen Lebenswirklichkeit zu überbrücken. Jedoch ist die allegorische Deutung einer Parabel kein ursprünglicher Teil der Jesusüberlieferung, sondern entspricht eher einer Jahrhunderte alten christlichen Deutungspraxis (vergl. dazu ausführlich Jeremias, J, Die Gleichnisse Jesu, 11. Aufl., 1996, 47ff). Drewermann (vergl. Drewermann, E, Wenn der Himmel die Erde berührt, 2004, 66ff) z. B. tauscht in seiner allegorischen Deutung die Synagoge gegen die Kirche und die Juden gegen die Christen aus. Dies ist sein Versuch, die Parabel "in unsere Tage hinein sprechen zu lassen" (74). Gott wird als der Besitzer des Weinberges angesehen und die Gemeinde, "die Gemeinschaft der Heiligen", als der Weinberg verstanden. Die bösen Winzer sind dann die Bischöfe, Apostel, Pfarrer, Pastoren, Priester etc., die sich hinter Bestimmungen verstecken und an Festlegungen klammern und den Menschen nicht mehr zuhören und ihre Nöte nicht mehr sehen, vor lauter Wissen, was katholisch, evangelisch, neuapostolisch etc. ist, die die Lehre verinnerlicht haben, ohne sie jedoch zu leben (zum Unterschied zwischen "Besitzen" und "Leben" vergl. Fromm, E, Haben oder Sein, 1997).
In einer (tiefen-) psychologischen Allegorie wird der Weinberg als die Seele verstanden (Gott bleibt der Besitzer des Weinberges, gleichsam der Ausgangsort der Seele) und die "bösen Winzer" sind wir selber mit unserer Angst, Dinge falsch zu machen, anzuecken, als unvernünftig angesehen zu werden. "Hoffen möchte man, (...) dass wir unseren Träumen glauben, (...), unserer tieferen Berufung Folge leisten, der Kraft des inneren Gefühls, unserer eigenen Gedanken, der Stimme im Verborgenen, in unserem eigenen Ich Raum geben, und dass es uns trägt wie der aufsteigende Saft in den Reben im Weinberg. (...) (Denn) am Ende wird die Frage sein, wie viel fruchtbar war, wie viel sich vollendet hat, wie viel Süßigkeit des Lebens weitergegeben wurde. Denn unser Leben ist bestimmt zur Freude, zur Schönheit und zum Glück" (71).

Aufrecht!
Manchmal sagen wir: Er oder sie hat den aufrechten Gang gelernt. Nicht nur im körperlichen Sinn, wenn nach einer orthopädischen Behandlung oder Übung man wieder „gerade geht“, sondern auch von Menschen, die sich „geduckt“ haben, ihre Meinung aus Angst vor Nachteilen nicht offen sagten, oder auf verschlungenem Weg ihren Vorteil suchten. Am Ende unseres Psalms wird deutlich, dass Menschen auch von außen „geduckt“ und „gekrümmt“ werden können: „wir haben mehr als genug Verachtung erfahren müssen (V. 3). Heute würde man sagen: Viele gibt es, die Mobbingerfahrungen machen und nicht so recht weiter wissen. Der Psalm lehrt den aufrechten Gang und damit eine Horizonterweiterung, die zu neuen Lebensperspektiven führt: „Zu dir, der du im Himmel thronst, richte ich meinen Blick empor (V. 1).
Statt Niedergeschlagenheit den Kopf heben, aufrecht werden, weil Gott uns in seiner Gnade würdig macht. Menschenwürde schenkt und Gott, deshalb sehen wir, ob Menschen würdig behandelt werden oder krumm gehalten werden sollen. Gottes Gnade befreit uns von inneren Lasten, die uns niederdrücken, und will uns ermutigen, äußere Lasten abzubauen.
Wir sollen unsere Augen auf Gott richten, damit wir einander wieder in die Augen schauen können. Damit Menschen auf Augenhöhe miteinander umgehen können. Damit Menschen einander wahrnehmen können. Aufrechter Gang. Gott ermöglicht es uns. Immer wieder auf’s Neue. Auch dann, wenn wir meinen den Blickkontakt verloren zu haben. Er schaut uns an. Und wir ihn. Und lernen Gnade.
Was kann es besseres und aufrechteres geben?
Frank Otfried July

Entnommen aus: Mit der Bibel durch das Jahr. Ökumenische Bibelauslegungen 2016 für Sonntag, den 21. Februar. Herausgegeben von Franz-Josef Bode u. a.

Samstag, 13. Februar 2016

Aschermittwoch - Kommentar zu einem Gottesdienst der NAK am 10.02.2016


Der Weg zum Kreuz


Einleitung: "Der Name dieses Tages ("Aschermittwoch") entstand dadurch, dass sich die Menschen zum Zeichen der Buße Asche auf ihre Häupter streuten. In der römischen Kirche werden die Gemeindeglieder auch heute noch mit dem Aschekreuz gezeichnet. Asche erinnert an die Vergänglichkeit alles Irdischen. Öffentliche Büßer wurden früher in der gallischen Kirche am Aschermittwoch aus der Kirche vertrieben (Vertreibung aus dem Paradies) und wurden durch ein Büßergewand und Asche deutlich kenntlich gemacht.In der protestantischen Kirche wird Asche nicht verwendet, weil zu dem Zeitpunkt der Reformation alle Handlungen zum Aschermittwoch und in der Fastenzeit derart materialisiert worden waren, dass darin kein geistlicher Gehalt mehr zu erkennen war. Darum wandte sich die Reformation zunächst ganz von der gottesdienstlichen und rituellen Begehung des Aschermittwoch ab. Inzwischen hat man erkannt, dass eine Fastenzeit durchaus auch evangelisch sein kann. Gott ermahnt uns zu einem Fasten, das die Not der Armen und Unterdrückten lindert und das Gerechtigkeit und Frieden hervorbringt bzw. fördert. Es ist also durchaus nicht das leibliche Fasten damit gemeint. Auf dieser Ebene ist es aber möglich, den Aschermittwoch wieder ernster zu nehmen und diesen Feiertag auch in protestantischen Kirchen gottesdienstlich zu begehen. Welche Riten dabei wieder aufgenommen werden können, ergibt sich aus dem Schwerpunkt des Gottesdienstes. Der Aschermittwoch führt das Thema des Sonntags Estomihi fort. Allerdings wird hier jetzt zu Beginn der Fastenzeit das Evangelium aus der Bergpredigt zum Fasten gewählt, d.h. also der Einstieg in die Fastenzeit wird hiermit vollzogen. Der Schwerpunkt liegt auf der "rechten Frömmigkeit", d.h. auf dem, was Gott von uns will.

Am Aschermittwoch beginnt die Fastenzeit, eine Zeit, in der wir zur Buße gerufen werden. Wir sollen umkehren, und dies geschieht nicht nur äußerlich; auch unser Herz bewegt und verändert sich. Die Hinwendung zu Gott macht uns zu einer echten Liebe zu unseren Mitmenschen fähig" (www.daskirchenjahr.de).

Am Aschermittwoch besuchte ich einen Gottesdienst der Neuapostolischen Kirche (Gemeinde Holstein Eutin; Unterbezirk Kiel, Apostelbereich Falk). Die Predigt wurde von Apostel Uli Falk gehalten. Die Predigtgrundlage war der Ps 9, 11: "Darum hoffen auf dich, die deinen Namen kennen; denn du verlässest nicht, die dich, HERR, suchen."

Der gesamte Psalm 9 lautet:
Der Herr spricht ein gerechtes Urteil
Dich, Herr, will ich loben von ganzem Herzen, von all deinen Wundern will ich erzählen. Über dich will ich mich freuen und jubeln, zur Ehre deines Namens ein Lied singen, du Höchster! Denn jetzt treten meine Feinde den Rückzug an, dein zorniger Blick wirft sie zu Boden und lässt sie umkommen. Du hast für meine Gerechtigkeit gesorgt und mir zu meinem Recht verholfen. Du hast dich auf den Richterstuhl gesetzt und gerecht geurteilt. Du hast ganze Völker in ihre Schranken verwiesen, die Gottlosen hast du umkommen lassen und ihre Namen für immer und ewig ausgelöscht. Der Feind ist völlig vernichtet, seine Macht für immer zerschlagen. Du hast seine Städte dem Erdboden gleichgemacht; nichts erinnert mehr an sie. Der Herr aber regiert für immer und ewig, er hat seinen Thron zum Gericht aufgestellt. Er selbst wird die Welt in Gerechtigkeit richten, wird den Völkern ein aufrichtiges und gerechtes Urteil sprechen. Den Unterdrückten gewährt der Herr seinen Schutz, in Zeiten der Not ist er für sie eine Burg in sicherer Höhe.  Auf dich, Herr, werden alle vertrauen, die dich und deinen Namen kennen, denn wer deine Nähe sucht, den lässt du nie allein. Singt dem Herrn, der auf dem Berg Zion wohnt, eure Lieder, verkündet unter allen Völkern seine großen Taten! Denn er zieht all die zur Rechenschaft, die Blut vergießen, er kümmert sich um die Verfolgten und überhört nicht die Schreie der Unterdrückten. Sei mir gnädig, Herr, sieh auch meine Not, in die mich der Hass meiner Feinde bringt, hol mich herauf aus dem Totenreich. Dann will ich deinen Ruhm verbreiten in den Toren der Stadt Zion, jubeln will ich über deine Rettung. Da sind Völker in die Gruben gestürzt, die sie für andere gegraben hatten, sie sind mit ihren Füßen im eigenen Fangnetz hängen geblieben. Der Herr hat sich zu erkennen gegeben, indem er Gericht übte: Wer Gott ablehnt, der verstrickt sich in seinen eigenen Machenschaften. Mögen alle Gottlosen im Totenreich enden, alle die Völker, denen Gott gleichgültig ist! Der Unterdrückte aber ist nicht für immer vergessen, und die vom Leid gebeugt sind, müssen ihre Hoffnung nicht aufgeben. Erhebe dich, Herr, lass nicht zu, dass Menschen sich dir widersetzen! Lass alle Völker vor dich treten und zieh sie zur Rechenschaft Versetze sie in Schrecken, Herr, lass alle Völker begreifen, dass sie nur Menschen sind! (NGÜ)

Eine (angedeutete) Evangeliumslesung war die Parabel von der Frau aus Syrophönizien aus Mk 7, 24-29: Und er stand auf und ging von dort in das Gebiet von Tyrus. Und er ging in ein Haus und wollte es niemanden wissen lassen und konnte doch nicht verborgen bleiben, sondern alsbald hörte eine Frau von ihm, deren Töchterlein einen unreinen Geist hatte. Und sie kam und fiel nieder zu seinen Füßen - die Frau war aber eine Griechin aus Syrophönizien - und bat ihn, dass er den bösen Geist von ihrer Tochter austreibe. Jesus aber sprach zu ihr: Lass zuvor die Kinder satt werden; es ist nicht recht, dass man den Kindern das Brot wegnehme und werfe es vor die Hunde. Sie antwortete aber und sprach zu ihm: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde unter dem Tisch von den Brosamen der Kinder. Und er sprach zu ihr: Um dieses Wortes willen geh hin, der böse Geist ist von deiner Tochter ausgefahren. Und sie ging hin in ihr Haus und fand das Kind auf dem Bett liegen, und der böse Geist war ausgefahren. (GNB)

Kommentar: "Die Parabel ist heilsuniversalistisch auszulegen. Sie bestimmt als 'Sitz im Leben' die urchristliche Debatte, ob Nichtjuden am Heil Israels beteiligt werden können. Diese Normenwundergeschichte zählt zu den frühen Versuchen, den auf Israel konzentrierten urchristlichen Heilspartikularismus durch einen den Rang Israels nicht betreitenden, aber im Blick auf Gottes freie Gnade und Barmherzigkeit relativierenden Heilsuniversalismus zu verändern" (Ulrich Mell: Das Brot der Hunde (Von Kindern und Hunden), 351. In: Zimmermann (2006), 347-351).

Es gilt nach wie vor, dass Gott sein Volk (die Juden) nicht verstoßen hat, sie wird vielmehr von Paulus als "heilige Erstlingsgabe" und "heilige Wurzel" (des Christentums) bezeichnet (Rö 11, 1-16). Darum ist es absurd, dass die christlichen Kirchen heute im Streit darüber sind, wer "das auserwählte Volk" oder "das Volk Gottes" oder "die Braut Christi" oder die "allein seligmachende Kirche" sei. Die Antwort hat Paulus bereits gegeben: die Juden; denn die Zweige können nicht zur Wurzel werden.

"Am Aschermittwoch beginnt die Fastenzeit, eine Zeit, in der wir zur Buße gerufen werden. Wir sollen umkehren, und dies geschieht nicht nur äußerlich; auch unser Herz bewegt und verändert sich. Die Hinwendung zu Gott macht uns zu einer echten Liebe zu unseren Mitmenschen fähig" (www.daskirchenjahr.de). Die Hinwendung zu Gott lässt uns bescheiden, dankbar und demütig werden, dass uns die "Brosamen" selig machen. Ein sich-erheben über andere Christen oder andere Religionen ist in diesem Sinne "Völlerei" - eine der sieben Todsünden.

Auffällig war jedoch, dass weder der Beginn der Fastenzeit Erwähnung fand noch eine Würdigung Israels als "Volk Gottes" vorgenommen wurde.

Donnerstag, 11. Februar 2016

Invokavit; mit einem Kommentar zu den Leitgedanken der NAK vom 14. Februar 2016

Versuchung


Heute ist der 1. Sonntag der Passionszeit - Invokavit. Der Name des heutigen Sonntags leitet sich von dem Beginn der lateinischen Antiphon ab: "Invocavit me, et ergo exaudiam eum" (Ps 91, 15; Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören).

Im Verlauf der fortlaufenden Bibellese hören wir den Psalm 91:
Geborgen unter dem Schutz Gottes
Wer unter dem Schutz des Höchsten wohnt, darf bleiben im Schatten des Allmächtigen. Darum sage ich zum Herrn: »Du bist meine Zuflucht und meine sichere Festung, du bist mein Gott, auf den ich vertraue.« Ja, er rettet dich ´wie einen Vogel` aus dem Netz des Vogelfängers, er bewahrt dich vor der tödlichen Pest. Er deckt dich schützend mit seinen Schwingen, unter seinen Flügeln findest du Geborgenheit. Seine Treue gibt dir Deckung, sie ist dein Schild, der dich schützt. Du brauchst dich nicht zu fürchten vor dem Schrecken der Nachtoder vor den Pfeilen, die am Tag abgeschossen werden, nicht vor der Pest, die im Finstern umgeht, nicht vor der Seuche, die mitten am Tag wütet. Selbst wenn Tausend neben dir fallen, gar Zehntausend zu deiner Rechten – dich trifft es nicht! Aber anschauen wirst du es mit eigenen Augen, du wirst sehen, wie die Feinde Gottes ihre gerechte Strafe bekommen. Denn du ´hast gesagt`: »Der Herr ist meine Zuflucht!« Den Höchsten hast du zum Schutz dir erwählt. So wird dir kein Unglück zustoßen, und kein Schicksalsschlag wird dich in deinem Zuhause treffen. Denn er hat für dich seine Engel entsandt und ihnen befohlen, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie werden dich auf Händen tragen, damit du mit deinem Fuß nicht an einen Stein stößt. Über Löwen und Ottern wirst du hinwegschreiten, starke junge Löwen und Schlangen wirst du zu Boden treten. ´So sagt nun der Herr:`»Weil er mit ganzer Liebe an mir hängt, will ich ihn befreien; ich hole ihn heraus aus der Gefahr, denn er kennt meinen Namen. Wenn er zu mir ruft, werde ich ihm antworten. In Zeiten der Not stehe ich ihm bei, ja, ich reiße ihn heraus und bringe ihn zu Ehren. Ich schenke ihm ein erfülltes und langes Leben und zeige ihm, wie ich Rettung schaffe.« (NGÜ)

Die Lesung aus dem Evangelium findet sich in Mt 4, 1-11
Jesus wird auf die Probe gestellt
Danach führte der Geist Gottes Jesus in die Wüste, wo er vom Teufel auf die Probe gestellt werden sollte. Nachdem er vierzig Tage und Nächte gefastet hatte, war er hungrig. Da trat der Versucher an ihn heran und sagte: »Wenn du Gottes Sohn bist, dann befiehl doch, dass die Steine hier zu Brot werden!« Jesus antwortete: »In den Heiligen Schriften steht: ›Der Mensch lebt nicht nur von Brot; er lebt von jedem Wort, das Gott spricht.‹« Darauf führte der Teufel ihn in die Heilige Stadt, stellte ihn auf den höchsten Punkt des Tempels und sagte: »Wenn du Gottes Sohn bist, dann spring doch hinunter; denn in den Heiligen Schriften steht: ›Deinetwegen wird Gott seine Engel schicken und sie werden dich auf Händen tragen, damit du dich an keinem Stein stößt.‹« Jesus antwortete: »In den Heiligen Schriften heißt es auch: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht herausfordern.‹« Zuletzt führte der Teufel Jesus auf einen sehr hohen Berg, zeigte ihm alle Reiche der Welt in ihrer Größe und Pracht und sagte: »Dies alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest.« Da sagte Jesus: »Weg mit dir, Satan! In den Heiligen Schriften heißt es: ›Vor dem Herrn, deinem Gott, wirf dich nieder, ihn sollst du anbeten und niemand sonst.‹« Darauf ließ der Teufel von Jesus ab, und Engel kamen und versorgten ihn. (GNB)

Für den Sonntag Invokavit ist keine Bachkantate (Johann Sebastian Bach 1685-1750) vorgesehen.

Mein Lied für den heutigen Sonntag lautet:
Mache dich, mein Geist, bereit (T: Johann Burchard Freystein 1695; M: vor 1681; geistlich Braunschweig 1686, Dresden 1694)

Die Lesung und Predigtgrundlage für die Gottesdienste der NAK an diesem Sonntag sind aus „Matthäus 6, 31-32: Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.“ (LUT) 

Begründung: „Am darauffolgenden Sonntag, der die Überschrift ‚Gott sorgt für uns’ trägt, geht es ebenfalls um die Fürsorge Gottes, der alleine wahrhaft Gutes und Vollkommenes schenken kann. In unseren Gebeten wollen wir ihn immer wieder um diese Gaben bitten. Wir wollen, so beschenkt, auch ein Segen für unseren Nächsten sein“ (zitiert aus den o. g. Leitgedanken der NAK).
Die Auswahl lässt sich mühelos mit der "Versuchungsgeschichte" verknüpfen, was sich in der Begründung jedoch nicht widerspiegelt. 

Kommentar: Diese Versuchungsepisode ist wohl eine der spannendsten Geschichten in der Bibel. Es ist eine Geschichte voller Demütigungen und Provokationen. Es stehen sich Jesus und der Teufel gleichsam als "sich duellierende jüdische Intellektuelle" gegenüber (Miles, J, Jesus, 2001, 43).
Angeregt durch Miles (ders.) und Drewermann (Tiefenpsychologie und Exegese, 3. Aufl., 1992) lese ich die Versuchungsgeschichte als ureigene innerpsychische Auseinandersetzung Jesu um seine eigene Rolle und Identität und seine Stellung innerhalb des jüdischen Volkes Gottes, von dem er ein Teil ist. Denn auch Jesus selbst musste sich ja die Frage beantworten, ob der Messias gekommen ist.
Identität kann mit Keupp als subjektiver Konstruktionsprozess begriffen werden, in dem Individuen eine Passung von innerer und äußerer Welt suchen (vergl. Keupp, H. u. a., Identitätskonstruktionen, 1999, 7).
Die Fragen lauten dann: Wer bin ich (mit Blick auf mich selbst)? oder "Bist Du der Gott, der damals in der Wüste ein Speisewunder tat? Wenn ja, dann beweise es, in dem Du ein weiteres Wunder tust." und
Wer bin ich (mit Blick auf die Gesellschaft und mit dem Gottesbezug)? oder "Was nützt Dir die Allmacht Gottes, wenn Gott diese Macht nicht für Dich einsetzt (und im Hinblick auf die kollektive und die individuelle Leidensgeschichte kann man mithören: "... und er hat es nie getan und wird es nie tun ...")?
Jesus beantwortet diese Frage zunächst mit Blick auf das Kollektiv und bedenkt den Auszug des Volkes aus Ägypten und die Wüstenwanderung (insb. Dtn 8). Gleichsam wie ein Advocatus Diaboli fallen ihm Gegenargumente ein (z. B. die babylonische Gefangenschaft (Jer 27)). In diesem Lichte betrachtet verkehrt sich der oben zitierten Ps 91 sogar in sein Gegenteil.
Jesus findet schließlich seine Antwort im "Sch'ma Jisrael", begreift sich selber als der gekommene Messias und beantwortet die Fragen auch mit Blick auf sich selber.
Das "Höre, Israel!" (Schma Jisrael; hebräisch שְׁמַע יִשְׂרָאֵל Sch'ma Jisrael, Schᵉma Jisrael oder kurz Sch'ma) und die folgenden Toraverse sind zentrale Bestandteile des täglichen Gebets im Judentum. Der Sch'ma-Ausdruck umfasst die monotheistische Essenz des Judentums und den Zentralkontext der Tora, in welchen die Kernbotschaft der Nächstenliebe gebettet ist: „Höre Jisrael! Adonaj ist für uns Gott, einzig und allein Adonaj ist Gott“ (Dtn 6, 4).
An der Versuchungsepisode kann somit sehr eindrucksvoll gezeigt werden, was Stegemann (s. o.) meint, wenn er davon spricht, dass "die von Matthäus erzählte 'Jesusgeschichte' als Fortschreibungsgeschichte der Geschichte Israels gelesen werden kann und mit seinen häufigen Verweisen auf die heiligen Schriften Israels die 'Jesusgeschichte' bewusst in die Erwählungsgeschichte Israels einbettet."So kann das Evangelium von der Versuchung Jesu als Geschichte der "Selbstvergewisserung Jesu" gelesen und als "Geburtsstunde" seiner Identität als Messias (und somit als Heil der Völker) angesehen werden oder, mit Keupp, als gelungene Identitätskonstruktion.

Freitag, 5. Februar 2016

Estomihi; mit einem Kommentar zu den Leitgedanken der NAK vom 07. Februar 2016

Bild: Der Kreuzweg Christi (Pantheon in Rom); eigene Aufnahme

Der Weg zum Kreuz (Der Weg der Liebe)


Der heutige Sonntag trägt den Namen Estomihi und leitet sich von dem Beginn der lateinischen Antiphon ab: esto mihi in lapidem fortissimum et in domum munitam ut salves me (Ps 31, 3b: Sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest!).

Im Verlauf der fortlaufenden Bibellese hören wir den Psalm 31:
Alle Zeiten meines Lebens sind in deiner Hand
Bei dir, Herr, habe ich Zuflucht gefunden. Lass mich nie in Schande geraten! Erweise mir deine Treue und rette mich! Neige dich zu mir herab und schenke meinem Rufen ein offenes Ohr! Befreie mich doch schnell aus meiner Not! Sei mir ein Fels, bei dem ich Schutz finde, eine Festung auf hohem Berg! Rette mich! Ja, du, du bist mein Fels und meine Burg! Du wirst mich führen und leiten – dafür stehst du mit deinem Namen ein. Befreie mich aus der Falle, die meine Feinde mir hinterhältig gestellt haben! Du bist mein Schutz. In deine Hände gebe ich meinen Geist. Du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott! Ich verabscheue alle, die nutzlose Götzen verehren, und ich selbst vertraue ganz dem Herrn. Voller Freude juble ich über deine Gnade: Du kennst mein Elend, kümmerst dich um meine Nöte, die so schwer auf meiner Seele liegen. Du hast mich nicht in die Hand meiner Feinde gegeben, weiten Raum hast du vor mir geschaffen. Sei du mir ´auch in Zukunft` gnädig, Herr! Noch bin ich in großer Bedrängnis, sind meine Augen trüb vor Traurigkeit, erschöpft bin ich an Leib und Seele. Voller Kummer schwindet mein Leben dahin, mit Stöhnen sehe ich zu, wie meine Jahre verrinnen. Eigene Schuld hat mir die Kraft genommen. Meine Glieder sind wie gelähmt. Meine Feinde haben dafür gesorgt, dass ich Hohn und Spott von meinen Nachbarn ernte. Meine Bekannten schrecken vor mir zurück; wer mich auf der Straße sieht, geht mir eilig aus dem Weg. Man hat mich vergessen, aus der Erinnerung verdrängt wie einen längst Verstorbenen. Ich komme mir vor wie ein ausgedientes Gefäß, ´das man zum Abfall wirft`. Ich höre ja genau, was viele tuscheln. Grauenhaft, was um mich vorgeht! Da schmieden Leute miteinander Pläne gegen mich und haben dabei nur das eine Ziel: sie wollen mir das Leben nehmen. Ich aber, Herr, vertraue auf dich! Ich sage es ´und halte daran fest`: »Du bist mein Gott!« Alle Zeiten meines Lebens sind in deiner Hand. Rette mich auch jetzt aus der Gewalt meiner Feinde und vor denen, die mich verfolgen! Wende dein Angesicht mir, deinem Diener, freundlich zu! Sei mir gnädig und rette mich! Herr, weil ich dich anrufe, lass mich nicht in Schande geraten – die gottlosen Verleumder aber sollen in Schande enden und im Totenreich für immer schweigen müssen. Verstummen muss jedes Lügenmaul, das mit Stolz und Verachtung frech gegen den redet, der nach dem Willen des Herrn lebt. ´Herr`, wie viel Gutes hältst du doch bereit für alle, die Ehrfurcht vor dir haben! Ja, vor den Augen aller Menschen zeigst du deine Güte denen, die bei dir Zuflucht suchen. Du birgst sie ganz nahe bei dir, unter deinen Augen sind sie vor hinterhältigen Menschen sicher. Wie in einer schützenden Hütte bewahrst du sie vor dem feindseligen Geschwätz ringsum. Gepriesen sei der Herr, denn er hat mir wunderbar seine Gnade erwiesen; er hat mir in einer befestigten Stadt Zuflucht geschenkt. Vorher hatte ich noch in meiner Verzweiflung gesagt:»Ich bin alleingelassen, verbannt aus deinen Augen.«Aber du hast auf mein lautes Flehen gehört, schon damals, als ich zu dir um Hilfe schrie. Ihr alle, die ihr zum Herrn gehört: zeigt ihm eure Liebe! Der Herr behütet alle, die ihm die Treue halten. Doch denen, die vermessen handeln, zahlt er ihren Hochmut gründlich heim. Seid stark und fasst neuen Mut, ihr alle, die ihr auf das Eingreifen des Herrn wartet! (NGÜ)

Die Lesung aus dem Evangelium findet sich in Mk 8, 31-38:
Jesus kündigt zum ersten Mal seinen Tod an
Danach begann Jesus den Jüngern klar zu machen, was Gott mit ihm vorhatte: dass der Menschensohn vieles erleiden und von den Ratsältesten, den führenden Priestern und den Gesetzeslehrern verworfen werden müsse, dass er getötet werden und nach drei Tagen auferstehen müsse. Jesus sagte ihnen das ganz offen. Da nahm Petrus ihn beiseite, fuhr ihn an und wollte ihm das ausreden. Aber Jesus wandte sich um, sah die anderen Jünger und wies Petrus scharf zurecht. »Geh weg!«, sagte er. »Hinter mich, an deinen Platz, du Satan! Deine Gedanken stammen nicht von Gott, sie sind typisch menschlich.«
Jesus folgen heißt: ihm das Kreuz nachtragen
Dann rief Jesus die ganze Menschenmenge hinzu und sagte: »Wer mir folgen will, muss sich und seine Wünsche aufgeben, sein Kreuz auf sich nehmen und auf meinem Weg hinter mir hergehen. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Aber wer sein Leben wegen mir und wegen der Guten Nachricht verliert, wird es retten. Was hat ein Mensch davon, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber zuletzt sein Leben verliert? Womit will er es dann zurückkaufen? Die Menschen dieser schuldbeladenen Generation wollen von Gott nichts wissen. Wenn jemand nicht den Mut hat, sich vor ihnen zu mir und meiner Botschaft zu bekennen, dann wird auch der Menschensohn keinen Mut haben, sich zu ihm zu bekennen, wenn er in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln kommt!« (GNB)

Meine Bachkantate (Johann Sebastian Bach 1685-1750) für den heutigen Tag ist:
Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott (BWV 127). Er komponierte die Choralkantate in Leipzig und führte sie am 11. Februar 1725 erstmals auf.

Mein Lied für den heutigen Sonntag lautet:
Lasset uns mit Jesus ziehen (Text: Sigmund von Birken, 1653; Melodie: Johann Schop, 1641 (Sollt ich meinem Gott nicht singen))

Demgegenüber ist die Lesung und die Predigtgrundlage für die Gottesdienste der NAK an diesem Sonntag aus „Mt 5, 17: Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ (LUT)

Begründung: Begründet wird die Auswahl, die mit „Das Gesetz des ‚Himmelreichs’“ überschrieben ist, so: „‚Das Gesetz Christi‘ – das ist das Schwerpunktthema, das in drei Sonntagsgottesdiensten im Monat Februar unter verschiedenen Aspekten betrachtet wird. Das ‚Gesetz Christi’ besteht in der Forderung nach Gottes- und Nächstenliebe. Durch dieses Gesetz wird zugleich deutlich, dass sich der Mensch das Heil nicht durch gute Taten verdienen kann, sondern dass es ihm durch den Glauben an Jesus Christus zuteil wird (KNK 4.8.1.). Am ersten Sonntag wird Jesus Christus als derjenige herausgestellt, der als ‚wahrer Mensch‘ als einziger das mosaische Gesetz erfüllt hat. Als ‚wahrer Gott‘ hat er die Autorität, ein neues Gesetz zu geben, das im Reich Gottes gültig ist (KNK 3.4.8.7, 4.7. und 4.8.)“ (zitiert aus den o. g. Leitgedanken der NAK).

Kommentar: Wie so oft hilft die GNB und die Wortumgebung zum besseren Verständnis dieser Stelle weiter: "Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Weisungen der Propheten außer Kraft zu setzen. Ich bin nicht gekommen, um sie außer Kraft zu setzen, sondern um sie zu erfüllen und ihnen volle Geltung zu verschaffen. Ich versichere euch: Solange Himmel und Erde bestehen, wird kein i-Punkt und kein Komma im Gesetz gestrichen. Das ganze Gesetz muss erfüllt werden. Wer also ein noch so unbedeutendes Gebot für ungültig erklärt und die Menschen in diesem Sinne lehrt, wird in der neuen Welt Gottes den letzten Platz einnehmen. Wer es aber befolgt und andere dazu anhält, wird in der neuen Welt Gottes hoch geachtet sein. Ich sage euch: Ihr werdet niemals in Gottes neue Welt kommen, wenn ihr seinen Willen nicht besser erfüllt als die Gesetzeslehrer und Pharisäer.« lautet diese Stelle in der Übertragung der sogen. "Bibel in heutigem Deutsch." (Mt 5, 17-20: Den Willen Gottes im Gesetz ganz ernst nehmen).
Der Bibelabschnitt ist der sogen. Bergpredigt (Mt 5-7) entnommen. Der Unterabschnitt (Mt 5, 17-20) ist bei Fiedler mit "Jesu Stellung zur Tora als Verpflichtung für die Jüngerschaft" überschrieben.
Jesus stellt sich also vor als derjenige, der mit dem Gesetz, mit der Tora, in dem Gesetz und unter dem Gesetz lebt. In diesem erfüllt er das Gesetz. Fiedler schlägt als Übersetzung "verwirklichen, ausführen, tun" vor. Erfüllt wird das Gesetz und die Tora durch die Tat. In diesem Sinne bedeutet die Erfüllung der Tora in Hinblick auf die Jüngerinnen und Jünger und in Hinblick auf uns heute die Aufforderung zur tätigen, aktiven Nachfolge. Die Lehrautorität Jesu ist gerade auch darin begründet, "dass seine Schülerinnen und Schüler in der Nachfolge die Verwirklichung des Gotteswillens 'praktisch' einüben können (Fiedler, 2006, 124). "Es kann also keine Rede davon sein, dass Jesus die bisherige Tora dadurch überbietet, dass er als der Messias, die endgültige Bedeutung der Tora offenbart, was die Verkündigung neuer Gebote einschließen soll" (ebenda). Jesus betont vielmehr die "unantastbare Geltung der gesamten Tora" (ebenda, 125)!
Die Leitgedanken nehmen in den Ausführungen vermutlich Bezug auf die lutherische Formel: "Ich aber sage Euch..." (Mt 5, 21-48).
Diese Formel ist nicht als Antithese zum mosaischen Gesetz zu verstehen. Heute würde man mit "meiner Meinung nach", "ich verstehe diese Stelle so" oder "besonders hervorheben (aus dem Gesetz) möchte ich." Es geht also um unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten eines biblischen Textes. Zudem weist Fiedler auch darauf hin, dass die antithetisch wirkende Form eine literarische Gestaltung durch Matthäus darstellt, ein stilistischer Kniff sozusagen (vergl. dazu ausführlich Fiedler, 2006, 122-129). Berger postuliert sogar, dass das Mt-Ev. das jüngste der vier Evangelien ist (vergl. dazu BNÜ). Dementsprechend übersetzt die "Bibel in gerechter Sprache" diese Stellen  in konsequenter Weise auch mit "Ich lege euch das heute so aus..." Somit fordert uns Christus an dem heutigen Sonntag nicht nur dazu auf, sich unter sein Kreuz zu begeben, sondern auch dazu, den 2000 jährigen Graben zwischen den biblischen Traditionen und unserem modernen Leben mutig zu überspringen und in homiletisch deutlich zu machen, was es heute heißt, das Gesetz zu erfüllen! Dabei ist es jedoch nicht ausreichend, lediglich auf die Autorität Jesu zu verweisen.