Donnerstag, 11. Februar 2016

Invokavit; mit einem Kommentar zu den Leitgedanken der NAK vom 14. Februar 2016

Versuchung


Heute ist der 1. Sonntag der Passionszeit - Invokavit. Der Name des heutigen Sonntags leitet sich von dem Beginn der lateinischen Antiphon ab: "Invocavit me, et ergo exaudiam eum" (Ps 91, 15; Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören).

Im Verlauf der fortlaufenden Bibellese hören wir den Psalm 91:
Geborgen unter dem Schutz Gottes
Wer unter dem Schutz des Höchsten wohnt, darf bleiben im Schatten des Allmächtigen. Darum sage ich zum Herrn: »Du bist meine Zuflucht und meine sichere Festung, du bist mein Gott, auf den ich vertraue.« Ja, er rettet dich ´wie einen Vogel` aus dem Netz des Vogelfängers, er bewahrt dich vor der tödlichen Pest. Er deckt dich schützend mit seinen Schwingen, unter seinen Flügeln findest du Geborgenheit. Seine Treue gibt dir Deckung, sie ist dein Schild, der dich schützt. Du brauchst dich nicht zu fürchten vor dem Schrecken der Nachtoder vor den Pfeilen, die am Tag abgeschossen werden, nicht vor der Pest, die im Finstern umgeht, nicht vor der Seuche, die mitten am Tag wütet. Selbst wenn Tausend neben dir fallen, gar Zehntausend zu deiner Rechten – dich trifft es nicht! Aber anschauen wirst du es mit eigenen Augen, du wirst sehen, wie die Feinde Gottes ihre gerechte Strafe bekommen. Denn du ´hast gesagt`: »Der Herr ist meine Zuflucht!« Den Höchsten hast du zum Schutz dir erwählt. So wird dir kein Unglück zustoßen, und kein Schicksalsschlag wird dich in deinem Zuhause treffen. Denn er hat für dich seine Engel entsandt und ihnen befohlen, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie werden dich auf Händen tragen, damit du mit deinem Fuß nicht an einen Stein stößt. Über Löwen und Ottern wirst du hinwegschreiten, starke junge Löwen und Schlangen wirst du zu Boden treten. ´So sagt nun der Herr:`»Weil er mit ganzer Liebe an mir hängt, will ich ihn befreien; ich hole ihn heraus aus der Gefahr, denn er kennt meinen Namen. Wenn er zu mir ruft, werde ich ihm antworten. In Zeiten der Not stehe ich ihm bei, ja, ich reiße ihn heraus und bringe ihn zu Ehren. Ich schenke ihm ein erfülltes und langes Leben und zeige ihm, wie ich Rettung schaffe.« (NGÜ)

Die Lesung aus dem Evangelium findet sich in Mt 4, 1-11
Jesus wird auf die Probe gestellt
Danach führte der Geist Gottes Jesus in die Wüste, wo er vom Teufel auf die Probe gestellt werden sollte. Nachdem er vierzig Tage und Nächte gefastet hatte, war er hungrig. Da trat der Versucher an ihn heran und sagte: »Wenn du Gottes Sohn bist, dann befiehl doch, dass die Steine hier zu Brot werden!« Jesus antwortete: »In den Heiligen Schriften steht: ›Der Mensch lebt nicht nur von Brot; er lebt von jedem Wort, das Gott spricht.‹« Darauf führte der Teufel ihn in die Heilige Stadt, stellte ihn auf den höchsten Punkt des Tempels und sagte: »Wenn du Gottes Sohn bist, dann spring doch hinunter; denn in den Heiligen Schriften steht: ›Deinetwegen wird Gott seine Engel schicken und sie werden dich auf Händen tragen, damit du dich an keinem Stein stößt.‹« Jesus antwortete: »In den Heiligen Schriften heißt es auch: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht herausfordern.‹« Zuletzt führte der Teufel Jesus auf einen sehr hohen Berg, zeigte ihm alle Reiche der Welt in ihrer Größe und Pracht und sagte: »Dies alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest.« Da sagte Jesus: »Weg mit dir, Satan! In den Heiligen Schriften heißt es: ›Vor dem Herrn, deinem Gott, wirf dich nieder, ihn sollst du anbeten und niemand sonst.‹« Darauf ließ der Teufel von Jesus ab, und Engel kamen und versorgten ihn. (GNB)

Für den Sonntag Invokavit ist keine Bachkantate (Johann Sebastian Bach 1685-1750) vorgesehen.

Mein Lied für den heutigen Sonntag lautet:
Mache dich, mein Geist, bereit (T: Johann Burchard Freystein 1695; M: vor 1681; geistlich Braunschweig 1686, Dresden 1694)

Die Lesung und Predigtgrundlage für die Gottesdienste der NAK an diesem Sonntag sind aus „Matthäus 6, 31-32: Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.“ (LUT) 

Begründung: „Am darauffolgenden Sonntag, der die Überschrift ‚Gott sorgt für uns’ trägt, geht es ebenfalls um die Fürsorge Gottes, der alleine wahrhaft Gutes und Vollkommenes schenken kann. In unseren Gebeten wollen wir ihn immer wieder um diese Gaben bitten. Wir wollen, so beschenkt, auch ein Segen für unseren Nächsten sein“ (zitiert aus den o. g. Leitgedanken der NAK).
Die Auswahl lässt sich mühelos mit der "Versuchungsgeschichte" verknüpfen, was sich in der Begründung jedoch nicht widerspiegelt. 

Kommentar: Diese Versuchungsepisode ist wohl eine der spannendsten Geschichten in der Bibel. Es ist eine Geschichte voller Demütigungen und Provokationen. Es stehen sich Jesus und der Teufel gleichsam als "sich duellierende jüdische Intellektuelle" gegenüber (Miles, J, Jesus, 2001, 43).
Angeregt durch Miles (ders.) und Drewermann (Tiefenpsychologie und Exegese, 3. Aufl., 1992) lese ich die Versuchungsgeschichte als ureigene innerpsychische Auseinandersetzung Jesu um seine eigene Rolle und Identität und seine Stellung innerhalb des jüdischen Volkes Gottes, von dem er ein Teil ist. Denn auch Jesus selbst musste sich ja die Frage beantworten, ob der Messias gekommen ist.
Identität kann mit Keupp als subjektiver Konstruktionsprozess begriffen werden, in dem Individuen eine Passung von innerer und äußerer Welt suchen (vergl. Keupp, H. u. a., Identitätskonstruktionen, 1999, 7).
Die Fragen lauten dann: Wer bin ich (mit Blick auf mich selbst)? oder "Bist Du der Gott, der damals in der Wüste ein Speisewunder tat? Wenn ja, dann beweise es, in dem Du ein weiteres Wunder tust." und
Wer bin ich (mit Blick auf die Gesellschaft und mit dem Gottesbezug)? oder "Was nützt Dir die Allmacht Gottes, wenn Gott diese Macht nicht für Dich einsetzt (und im Hinblick auf die kollektive und die individuelle Leidensgeschichte kann man mithören: "... und er hat es nie getan und wird es nie tun ...")?
Jesus beantwortet diese Frage zunächst mit Blick auf das Kollektiv und bedenkt den Auszug des Volkes aus Ägypten und die Wüstenwanderung (insb. Dtn 8). Gleichsam wie ein Advocatus Diaboli fallen ihm Gegenargumente ein (z. B. die babylonische Gefangenschaft (Jer 27)). In diesem Lichte betrachtet verkehrt sich der oben zitierten Ps 91 sogar in sein Gegenteil.
Jesus findet schließlich seine Antwort im "Sch'ma Jisrael", begreift sich selber als der gekommene Messias und beantwortet die Fragen auch mit Blick auf sich selber.
Das "Höre, Israel!" (Schma Jisrael; hebräisch שְׁמַע יִשְׂרָאֵל Sch'ma Jisrael, Schᵉma Jisrael oder kurz Sch'ma) und die folgenden Toraverse sind zentrale Bestandteile des täglichen Gebets im Judentum. Der Sch'ma-Ausdruck umfasst die monotheistische Essenz des Judentums und den Zentralkontext der Tora, in welchen die Kernbotschaft der Nächstenliebe gebettet ist: „Höre Jisrael! Adonaj ist für uns Gott, einzig und allein Adonaj ist Gott“ (Dtn 6, 4).
An der Versuchungsepisode kann somit sehr eindrucksvoll gezeigt werden, was Stegemann (s. o.) meint, wenn er davon spricht, dass "die von Matthäus erzählte 'Jesusgeschichte' als Fortschreibungsgeschichte der Geschichte Israels gelesen werden kann und mit seinen häufigen Verweisen auf die heiligen Schriften Israels die 'Jesusgeschichte' bewusst in die Erwählungsgeschichte Israels einbettet."So kann das Evangelium von der Versuchung Jesu als Geschichte der "Selbstvergewisserung Jesu" gelesen und als "Geburtsstunde" seiner Identität als Messias (und somit als Heil der Völker) angesehen werden oder, mit Keupp, als gelungene Identitätskonstruktion.

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