Donnerstag, 27. Februar 2014

Invokavit - Kommentar zu den LG vom 09.03.2014

Einleitung: "Im zweiten Sonntagsgottesdienst im  März beginnt eine neue Themenreihe, die mit 'Die Seligpreisungen' überschrieben ist. Dieser Themenreihe sind drei Sonntagsgottesdienste im März gewidmet. Die  Seligpreisungen bilden den Anfang der  Bergpredigt. Die Bergpredigt zählt sicherlich zu den bekanntesten Abschnitten nicht nur des Matthäusevangeliums, sondern des Neuen Testaments. In der Bergpredigt zeigt sich Jesus als der Gesetzgeber des Neuen Bundes. Schon der Ort, ein Berg, auf dem Jesus predigt, verweist auf die Gesetzgebung am Sinai. Jesus korrigiert und verdeutlicht zum Teil das mosaische Gesetz ('Ihr habt  gehört, das zu den Alten gesagt  ist - Ich  aber  sage euch', V. 21 und 22). Die Autorität Jesu, so wird in der Bergpredigt deutlich, geht weit über die des Mose hinaus. Korrektur und Präzisierung des Gesetzes in der Bergpredigt dienen u. a. dazu, dem Menschen deutlich zu machen, dass er an den Forderungen des Gesetzes scheitern wird und das Heil nicht aus dem Gesetz, sondern aus der Gnade Gottes kommt.
Die Griechen verstanden unter 'selig' einen Zustand, der frei von  Sorge und Leid ist.
Im Matthäusevangelium wird unter 'selig sein' etwas Geistliches verstanden, nämlich die Teilhabe am Reich Gottes. Bestimmte Bedingungen werden in den 'Seligpreisungen' (Mt 5, 3–12) genannt, die zu dieser Teilhabe führen: z. B. 'geistlich arm zu sein' (V. 3), 'Leid zu tragen' (V. 4), 'hungern nach Gerechtigkeit' (V. 6). Diese drei Seligpreisungen sollen im März für die Gemeinde ausgelegt werden. 
Geistliche Armut wird gepriesen, weil durch sie das vollständige Angewiesen-sein des Menschen auf Gott zum Ausdruck kommt. Wer geistlich arm ist, der verlässt sich nicht auf seinen Verstand, auf seine Fähigkeiten, sondern vertraut auf Gottes Wirken."

Die Leitgedanken für die Predigt tragen die Überschrift: "Verheißung für geistlich Arme."

Predigtgrundlage für die Gottesdienste der NAK ist "Mt 5, 3: Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich."

Die Kernbotschaft lautet: "Geistlich Arme sind selig zu preisen, weil sie empfänglich sind für die Gaben Gottes."

Die Bibelstelle wird in den folgenden Kontext gestellt: „Den Beginn der Bergpredigt bilden die Seligpreisungen, die konträr zu den alttestamentlichen Vorstellungen von Frömmigkeit und Heilserwerb durch Gesetzeserfüllung stehen. Sie stehen damit in einer Reihe mit den Aussagen Jesu zum Gesetz, die eine neue Sicht auf das Verhältnis des Menschen zu Gott werfen." 

Schließlich werden die LG so zusammengefasst: 
"Nicht menschlicher Weisheit, sondern den 'geistlich Armen' erschließt sich das Geheimnis Gottes:
  • das Wort vom Kreuz,
  • die Berufung und Erwählung,
  • die Auferstehung und Verwandlung am Tag des Herrn“ (alle Zitate aus den o. g. LG).
Kommentar: "Die Seligpreisungen der Armen, (...), wird bei Mt durch den Zusatz 'im Geiste' auf alle gedeutet, die sich vor Gott arm wissen und in aller Not auf ihn allein ihr Vertrauen setzen" (Schnackenburg, R, Matthäusevangelium, I, 46: Die Neue Echter Bibel: Kommentar zum neuen Testament mit der EU, 1985). Es geht hier also nicht um "menschliche Weisheit" (s. o.), sondern um eine Glaubenshaltung.
Die Leitgedanken weisen explizit auf eine Themenreihe zur sogen. "Bergpredigt" und genauer zu den "Seligpreisungen" hin. Der o. g. These, dass die Ausführungen Jesu "konträr zu den alttestamentlichen Vorstellungen" stünden, dass Jesus die mosaischen Gesetze "korrigiert" habe und "weit über diese hinaus" gegangen sei (alle Zitate aus den o. g. LG), steht jedoch das Folgende gegenüber:
  • Berger und Nord weisen darauf hin, dass es "für den gewöhnlichen Jude zur Zeit des AT darauf an kam, 'in den Himmel' zu kommen. Das aber konnte nur erreicht werden, wenn man die Gesetze (...) ganz genau bewahrte und sogar noch überbot. Von einer Auflösung der Gesetze kann daher keine Rede sein" (BNÜ, 2001, 572).
  • Stegemann fasst in seinem überaus lesenswerten Buch "Jesus und seine Zeit" (2010) diese Auseinandersetzung wie folgt zusammen: "Die von Matthäus erzählte 'Jesusgeschichte' kann als Fortschreibungsgeschichte der Geschichte Israels gelesen werden. D. h. der Autor (Matthäus) will mit seinen häufigen Verweisen auf die heiligen Schriften Israels die 'Jesusgeschichte' bewusst in die Erwählungsgeschichte Israels einbetten. Diese wird dann immer schon voraus-gesetzt und nicht er-setzt" (45). Zudem steht heute völlig außer Frage, dass Jesus ein Jude war: Unumstritten ist "die Frage der Zugehörigkeit Jesu zum Judentum. Es steht nur noch zur Debatte, "wo Jesus innerhalb des Judentums seiner Zeit zu verorten ist" (ebd., 178).
  • "Die Seligpreisungen werden nicht selten als das neutestamentliche Gegenüber zum Dekalog, sozusagen als höhere Ethik der Christen gegenüber den alttestamentlichen Geboten hingestellt. Mit einer solchen Auffassung verkennt man den Sinn der Worte Jesu vollständig. Jesus hat die Gültigkeit des Dekalogs immer selbstverständlich vorausgesetzt" (Benedikt XVI./Ratzinger, J, Jesus von Nazareth I, 2007, 100).

Am 09.03.2014 feiern wir den Sonntag "Invokavit - Versuchung. Der Name des Sonntags leitet sich vom Beginn der lateinischen Antiphon ab: Invokavit me, et ergo exaudiam eum (Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören (Ps 91, 15) und wir hören die Erzählung von der Versuchung Jesu" (aus: Senftleben, Mit dem Kirchenjahr leben, 1988, 42).

Der Wochenpsalm im Ablauf des (ev.) Kirchenjahres ist Ps 91:
"Unter Gottes Schutz
Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem HERRN: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. Denn er errettet dich vom Strick des Jägers und von der verderblichen Pest. Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, dass du nicht erschrecken musst vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die am Mittag Verderben bringt.  Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen. Ja, du wirst es mit eigenen Augen sehen und schauen, wie den Gottlosen vergolten wird. Denn der HERR ist deine Zuversicht, der Höchste ist deine Zuflucht. Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich deinem Hause nahen. Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Über Löwen und Ottern wirst du gehen und junge Löwen und Drachen niedertreten. 'Er liebt mich, darum will ich ihn erretten; er kennt meinen Namen, darum will ich ihn schützen. Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen. Ich will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm zeigen mein Heil'" (LUT, 1985).

Die Lesung aus dem Evangelium findet sich bei Mt 4, 1-11:
"Die Versuchung Jesu
Dann wurde Jesus von dem Geist in die Wüste hinaufgeführt, um von dem Teufel versucht zu werden; und als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn schließlich. Und der Versucher trat zu ihm hin und sprach: Wenn du Gottes Sohn bist, so sprich, dass diese Steine Brote werden! Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben: 'Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht.' Darauf nimmt der Teufel ihn mit in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und spricht zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so wirf dich hinab! Denn es steht geschrieben: 'Er wird seinen Engeln über dir befehlen, und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du nicht etwa deinen Fuß an einen Stein stößt.' Jesus sprach zu ihm: Wiederum steht geschrieben: 'Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.' Wiederum nimmt der Teufel ihn mit auf einen sehr hohen Berg und zeigt ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Dies alles will ich dir geben, wenn du niederfallen und mich anbeten willst. Da spricht Jesus zu ihm: Geh hinweg, Satan! Denn es steht geschrieben: 'Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen.' Dann verlässt ihn der Teufel, und siehe, Engel kamen herbei und dienten ihm" (ELB, 2010).

Diese Versuchungsepisode ist wohl eine der spannendsten Geschichten in der Bibel. Es ist eine Geschichte voller Demütigungen und Provokationen. Es stehen sich Jesus und der Teufel gleichsam als "sich duellierende jüdische Intellektuelle" gegenüber (Miles, J, Jesus, 2001, 43).
Angeregt durch Miles (ders.) und Drewermann (Tiefenpsychologie und Exegese, 3. Aufl., 1992) lese ich die Versuchungsgeschichte als ureigene innerpsychische Auseinandersetzung Jesu um seine eigene Rolle und Identität und seine Stellung innerhalb des jüdischen Volkes Gottes, von dem er ein Teil ist. Denn auch Jesus selbst musste sich ja die Frage beantworten, ob der Messias gekommen ist.
Identität kann mit Keupp als subjektiver Konstruktionsprozess begriffen werden, in dem Individuen eine Passung von innerer und äußerer Welt suchen (vergl. Keupp, H. u. a., Identitätskonstruktionen, 1999, 7).
Die Fragen lauten dann: Wer bin ich (mit Blick auf mich selbst)? oder "Bist Du der Gott, der damals in der Wüste ein Speisewunder tat? Wenn ja, dann beweise es, in dem Du ein weiteres Wunder tust." und 
Wer bin ich (mit Blick auf die Gesellschaft und mit dem Gottesbezug)? oder "Was nützt Dir die Allmacht Gottes, wenn Gott diese Macht nicht für Dich einsetzt (und im Hinblick auf die kollektive und die individuelle Leidensgeschichte kann man mithören: "... und er hat es nie getan und wird es nie tun ...")?
Jesus beantwortet diese Frage zunächst mit Blick auf das Kollektiv und bedenkt den Auszug des Volkes aus Ägypten und die Wüstenwanderung (insb. Dtn 8). Gleichsam wie ein Advocatus Diaboli fallen ihm Gegenargumente ein (z. B. die babylonische Gefangenschaft (Jer 27)). In diesem Lichte betrachtet verkehrt sich der oben zitierten Ps 91 sogar in sein Gegenteil.
Jesus findet schließlich seine Antwort im "Sch'ma Jisrael", begreift sich selber als der gekommene Messias und beantwortet die Fragen auch mit Blick auf sich selber.
Das "Höre, Israel!" (Schma Jisrael; hebräisch שְׁמַע יִשְׂרָאֵל Sch'ma Jisrael, Schᵉma Jisrael oder kurz Sch'ma) und die folgenden Toraverse sind zentrale Bestandteile des täglichen Gebets im Judentum. Der Sch'ma-Ausdruck umfasst die monotheistische Essenz des Judentums und den Zentralkontext der Tora, in welchen die Kernbotschaft der Nächstenliebe gebettet ist: „Höre Jisrael! Adonaj ist für uns Gott, einzig und allein Adonaj ist Gott“ (Dtn 6, 4).
An der Versuchungsepisode kann somit sehr eindrucksvoll gezeigt werden, was Stegemann (s. o.) meint, wenn er davon spricht, dass "die von Matthäus erzählte 'Jesusgeschichte' als Fortschreibungsgeschichte der Geschichte Israels gelesen werden kann und mit seinen häufigen Verweisen auf die heiligen Schriften Israels die 'Jesusgeschichte' bewusst in die Erwählungsgeschichte Israels einbettet."
So kann das Evangelium von der Versuchung Jesu als Geschichte der "Selbstvergewisserung Jesu" gelesen und als "Geburtsstunde" seiner Identität als Messias (und somit als Heil der Völker) angesehen werden oder, mit Keupp, als gelungene Identitätskonstruktion.



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